In den vergangenen Monaten, seit die ersten Impfstoffe erhältlich sind, wird der Begriff Herdenimmunität diskutiert. Dabei handelt es sich um den Prozentsatz der Bevölkerung, der geimpft sein muss, um die weitere Ausbreitung des Virus zu stoppen und damit das Virus auszurotten. Dabei wird ein Wert von 60-70% Geimpfter angenommen. Bewusst oder unbewusst wird dabei suggeriert, dass dann die Normalität wie vor dem Auftauchen von SARS-CoV2 wieder eintritt. In der neuesten Ausgabe der Wissenschaftszeitschrift Nature (einer der drei Führenden Zeitschriften in diesem Bereich) wird diese Annahme kritisch diskutiert. Unter dem Titel „Fünf Gründe warum COVID Herdenimmunität wahrscheinlich unmöglich ist“ werden dabei folgende Argumente aufgeführt:
- Ein Schlüssel zur Herdenimmunität ist, dass ein Erkrankter statistisch nicht mehr auf Menschen trifft, die er anstecken kann. Die Impfungen schützen zwar nach bisheriger Datenlage vor schweren Krankheitsverläufen, ob sie aber auch davor schützen, dass Geimpfte andere nicht mehr anstecken können ist noch unklar.
- Die Impfquote ist weltweit aber auch innerhalb von Staaten sehr unterschiedlich hoch. Das kann zum einen dazu führen, dass es immer wieder lokale Ausbrüche gibt. Zum anderen hilft es einem Staat nichts wenn er eine hohe Impfquote hat, wenn Nachbarländer oder der Rest der Welt nicht oder kaum geimpft ist. Durch den intensiven internationalen Austausch z.B. durch Handel, Berufspendlern oder Tourismus kommt es so immer zur Verdünnung der Impfquote. Für unter 16 jährige gibt es keinen zugelassenen Impfstoff. Kann man Kinder und Jugendliche nicht impfen, müsste man z.B. in den USA alle Erwachsenen impfen, um Herdenimmunität zu erreichen.
- Während noch geimpft wird, treten bereits zahlreiche neue Mutationen auf, von denen einige so verändert sind, dass die Impfung nicht mehr oder schlechter wirkt.
- Die Immunität nach durchgemachter Infektion oder Impfung hält nicht für immer. Studien zeigen, dass eine Wiederansteckung nach durchgemachter COVID-19 Infektion möglich ist. Die bisherige Datenlage sagt auch, dass Wiederauffrischungsimpfungen nötig sein werden. D.h. noch bevor die Impfquote von 70% erreicht ist, brauchen die zuerst Geimpften schon wieder eine Auffrischung.
- Die Impfung wirkt nicht zu 100%, d.h. trotz Impfung ist ein kleiner Teil (ein realistischer wert sind 10%) nicht geschützt, kann erkranken und andere anstecken. Dennoch wird sich mit steigender Impfquote das Verhalten der Menschen verändern. Trafen die Ungeimpften aus Vernunft oder wegen Regierungsbeschlüssen eine fremde Person und treffen Geimpfte aufgrund von Lockerungen und einem Gefühl der wiedererlangten Normalität 10 Personen, so ist man in Bezug auf die Virusausbreitung wieder da, wo man ohne Impfung war.
Trotz dieser Aussichten betont der Artikel jedoch den Erfolg der Impfungen, schützen sie doch vor schweren Verläufen und vermindern auf mittlere Sicht deutlich die Anzahl der COVID-19 Toten. Man wird jedoch mit wiederkehrenden lokalen oder regionalen Ausbrüchen rechnen müssen und wahrscheinlich werden wiederholte Auffrischungsimpfungen, die stetige Weiterentwicklung der Impfstoffe und die Beibehaltung anderer Maßnahmen langfristig nötig sein. Sprich es wird nicht wieder ganz so sein, wie vor dem Ausbruch der Pandemie.
© PD Dr. med. Oliver Kretz
Stand März 2021
Link zur Originalpublikation:
https://www.nature.com/articles/d41586-021-00728-2?s=09